Im Namen der Wissenschaft – auf Kosten der Tiere?

16. Juni 2025

Ein früher Morgen in Bern. Die Straßen sind noch ruhig, die Stadt erwacht gerade. Wir treffen uns in einem kleinen Café unweit des Universitätsgebäudes. Die Sonne fällt schräg durch die Fensterscheiben, das Klirren von Tassen und das Murmeln leiser Gespräche begleiten unseren Kaffee. Es ist der Beginn eines Besuchs, der uns an einen Ort führen wird, den nur wenige zu Gesicht bekommen und das aus gutem Grund.

Wir gehen zu Fuß zur Universität, vorbei an den alten Fassaden Berns. Im Morgenlicht leuchten sie beinahe golden. Das Gebäude der Universität erhebt sich eindrucksvoll vor uns. Hier treffen Geschichte und Gegenwart der Wissenschaft aufeinander. Drinnen empfängt uns eine ruhige, fast kontemplative Atmosphäre. In einem hellen Besprechungsraum treffen wir Frau Desbaillets. Sie ist unsere Ansprechpartnerin für diesen Tag und Leiterin des Animal Welfare Office der Universität Bern. Sie begrüßt uns freundlich, mit ruhiger Stimme und aufmerksamem Blick. Ihr Auftreten ist professionell und zugleich offen. Es wird deutlich, dass sie mit der Sensibilität des Themas vertraut ist: Tierversuche in der Forschung. Das Gespräch beginnt. Unsere Fragen liegen bereit,

„Ich esse kein Fleisch – außer gelegentlich Huhn – weil ich mit der Art und Weise, wie Tiere industriell gehalten werden, nicht einverstanden bin.“

doch bald entwickelt sich ein echtes Gespräch. Persönlich, tiefgehend, fordernd. Frau Desbaillets spricht präzise über gesetzliche Vorgaben, ethische Prinzipien, den Alltag mit Versuchstieren. Dabei gilt der sogenannte 3R-Grundsatz – Replace, Reduce, Refine – als ethisches Fundament. Jährlich müssen Forschungseinrichtungen detailliert angeben, wie viele Tiere sie verwenden, zu welchem Zweck und unter welcher Belastung. Jede Form von Manipulation, also jede Handlung, die das Tier beeinflusst oder belasten könnte, muss genehmigt und dokumentiert werden. Auch regelmäßige Kontrollen sind Pflicht, ebenso Schulungen für alle beteiligten Personen. Sie spricht nicht nur vom Aufwand – wissenschaftlich, administrativ, ethisch. Sie stellt die Frage, die alles trägt: „Ist dieser Versuch wirklich notwendig?“ Und sie meint sie ernst – nicht nur formal.

„Der Weg zu tierversuchsfreien Methoden ist richtig – aber er muss verantwortungsvoll und wissenschaftlich fundiert sein.“

Was uns besonders bleibt: Sie spricht nicht abstrakt. Sie nennt Beispiele. Berichtet von Teamarbeit zwischen Forschenden, Tierpflegern, Veterinären. Die Grenze zwischen Wissenschaft und Tierwohl ist nicht theoretisch. Sie wird täglich neu ausgehandelt.

Nach einer Stunde endet das Gespräch. Wir lassen unsere Taschen zurück. Unser nächstes Ziel: ein Besuch in der tiergestützten Forschungseinrichtung selbst. Was uns dort erwartet, wissen wir nicht genau. Aber wir gehen mit mehr Bewusstsein hinein. Wir sind nicht nur neugierig, wir sind auch ehrfürchtig gegenüber der Verantwortung, die diesen Ort prägt.

UniH6 Historisches Verwaltungsgebäude

Der Weg dauert etwa fünfzehn Minuten. Die Stadt ist jetzt wacher: Fahrräder rauschen vorbei, ein Hund bellt. Doch unser Gespräch bleibt intensiv. Wir sprechen über Verantwortung, über Zweifel, über unsere eigene Haltung zur Forschung mit Tieren. Frau Desbaillets fragt zurück. Nicht kritisch – eher offen. Ein Dialog entsteht, der uns fordert. Je näher wir dem Gebäude kommen, desto leiser werden unsere Stimmen. Nicht aus Unsicherheit. Aus Konzentration. Schließlich betreten wir durch den Haupteingang ein mehrstöckiges Gebäude – gemeinsam mit Frau Desbaillets. Von außen wirkt „Der Weg zu tierversuchsfreien Methoden ist richtig – aber er muss verantwortungsvoll und wissenschaftlich fundiert sein.“ „Ich esse kein Fleisch – außer gelegentlich Huhn – weil ich mit der Art und Weise, wie Tiere industriell gehalten werden, nicht einverstanden bin.“ Wetter: Bern 15° 09.05.2025 Kirchenfeld Zeitung es funktional, beinahe nüchtern. Kein Namensschild, kein sichtbarer Hinweis darauf, welche Arbeit hier geleistet wird. Die Schlichtheit des Eingangs steht im Kontrast zu der Komplexität, die uns im Inneren erwartet.

Wir erreichen einen schlichten Vorraum – eine Art Schleuse zwischen der alltäglichen Welt draußen und der streng kontrollierten Umgebung der Tierhaltungseinheit. Eine dichte, schwere Schiebetür aus Metall schließt sich lautlos hinter uns. Sie trennt nicht nur zwei Räume, sondern symbolisch auch zwei Wirklichkeiten: draußen das Gewohnte – hier drinnen ein Ort, an dem jedes Detail geregelt ist. Links: Spinde, daneben Kisten für benutzte Schutzkleidung. Rechts: Regale mit frischer Ausrüstung. Auf dem Boden fällt eine blaue Fläche ins Auge – eine Übergangszone.

„Wir haben die Verantwortung, Tierversuche zu stoppen, wenn es Hinweise auf unnötiges Leid gibt – und wir tun das.“

Wer sich nicht an diese Regel hält, riskiert, Keime oder Partikel in empfindliche Bereiche einzuschleppen, ein Hygieneprotokoll, das hier kompromisslos umgesetzt wird. Die Atmosphäre verändert sich merklich. Die Stimmung wird konzentrierter, fast andächtig. Alles, was man tut, hat hier Konsequenzen. Wir desinfizieren uns – bis zu den Ellenbogen. Die Flüssigkeit ist kalt, der Geruch beißend, aber vertraut. Dann folgt das Anlegen der Schutzkleidung: Overall, Handschuhe, Haarnetz, Maske, Schutzschuhe. Es dauert, bis alles sitzt. Noch länger, bis es sich natürlich anfühlt. Jeder Schritt ist klar definiert. Hier gibt es keinen Raum für Improvisation. Selbst der Moment, in dem man über die blaue Linie auf den „inneren“ Boden tritt, fühlt sich bedeutungsvoll an – als hätte man eben ein unsichtbares Versprechen abgegeben: Ab jetzt gelten andere Regeln.

„Nur wenn ein Versuch unerlässlich ist und die Belastung für das Tier möglichst geringgehalten wird, darf er durchgeführt werden.“

Wir sind bereit. Eine der Begleiterinnen hält ihren Zugangsausweis an ein kleines Lesegerät neben der Tür. Mit einem leisen Piepen entriegelt sich die massive Tür, die sich geräuschlos öffnet. Dahinter erstreckt sich ein langer, schmaler Gang – hell ausgeleuchtet, die Temperatur angenehm konstant. Die Luft ist auffallend sauber, fast steril, aber nicht unangenehm. Links reihen sich mehrere Türen aneinander, jede davon verschlossen, anonym. Die rechte Seite bleibt leer – ein architektonisches Detail, das uns erst später wirklich bewusst wird: Nichts in diesem Gebäude ist zufällig. Wir betreten Raum für Raum, folgen unseren Begleiterinnen durch verschiedene Labore. Überall stehen Geräte, Apparaturen, kleine Monitore, manche surren leise, andere leuchten blinkend. Für Außenstehende bleibt vieles rätselhaft. Eine eigene Sprache: Technik, Protokolle, Präzision. Vieles bleibt uns fremd – und soll es wohl auch. Unsere Begleiterinnen sprechen ruhig, sachlich, geduldig. Sie erklären, ohne zu dozieren. In einem der Räume arbeitet eine junge Frau mit Tieren.

Hochkonzentriert. Jeder Handgriff überlegt. Was genau sie tut, bleibt unkommentiert. Nicht aus Misstrauen – aus Prinzip. Hier gibt es Grenzen. Und Respekt vor ihnen. Wir betreten einen weiteren Raum. Schlicht, fast unscheinbar – und doch durchdacht bis ins Detail. Eine Begleiterin zeigt auf die Käfige. Unsere Begleiterin bleibt stehen, zeigt auf die Käfige und beginnt zu erklären. Die Gitter darüber sind gezielt gewählt, sorgen für ideale Luftzirkulation und verhindern Verletzungen. Doch es geht um mehr als Technik. Es geht ums Verhalten: Wo verstecken sich die Tiere? Wie bauen sie Stress ab? Woran erkennt man Unruhe? Ihre Erklärungen sind anschaulich, verständlich und immer respektvoll. Jedes Tier zählt. Sie sprechen auch über die Versuche selbst. Warum sie „Nur wenn ein Versuch unerlässlich ist und die Belastung für das Tier möglichst geringgehalten wird, darf er durchgeführt werden.“ „Wir haben die Verantwortung, Tierversuche zu stoppen, wenn es Hinweise auf unnötiges Leid gibt – und wir tun das.“ Wetter: Bern 15° 09.05.2025 Kirchenfeld Zeitung notwendig sind. Wann sie infrage stehen. Wie Alternativen geprüft werden. Und dass hier nicht nur verwaltet, sondern verstanden wird. Wir sehen Mäuse, Ratten. Alles ist ordentlich, sauber und gut strukturiert. Die Käfige sind genormt, aber nicht leblos. Besonders auffällig: kleine rote Häuschen in den Rattenkäfigen. Sie wirken durchsichtig – doch für die Tiere sind sie schwarz. Denn Ratten sehen Rot als Dunkelheit. Ein Rückzugsort, klug durchdacht. Zum Schluss: zwei Räume mit Kaninchen. Große, weiße Tiere. Einige ausgestreckt, andere wachsam in den Ecken. Sie werden getrennt gehalten – nach Alter, Gesundheitszustand. Genaueres bleibt unausgesprochen. Wieder geht es nicht nur um Haltung, sondern um Verhalten, Stressvermeidung, gesetzliche Normen. Alles, was hier geschieht, geschieht unter strenger Aufsicht und in klaren Rahmenbedingungen. Die Balance zwischen Forschung und Ethik ist stets präsent und spürbar.

„Selbst bei hoher wissenschaftlicher Relevanz muss ein Versuch abgelehnt werden, wenn das Tierleid nicht durch den Nutzen aufgewogen werden kann.“

Wir kehren zurück in den Vorraum. Wieder legen wir die Schutzkleidung ab, Schritt für Schritt, wie es vorgeschrieben ist. Noch einmal die Hände desinfizieren. Die Atmosphäre: ruhiger als zuvor. Vielleicht, weil wir jetzt mehr verstanden haben. Draußen ist es mittlerweile Mittag geworden. Die Stadt wirkt heller, lebendiger. Der Kontrast zu dem, was wir gerade erlebt haben, ist deutlich. In der Stille der Tierhaltungseinheit herrschte eine Konzentration, eine Ernsthaftigkeit, die sich schwer in Worte fassen lässt. Dieser Besuch war kein Spektakel Keine schockierenden Bilder, keine dramatischen Szenen. Und genau das macht ihn bedeutungsvoll. Die Arbeit in einer solchen Einrichtung ist geprägt von Professionalität, von klaren Regeln aber auch von Respekt. Respekt gegenüber den Tieren, gegenüber der Wissenschaft, und gegenüber der Verantwortung, die mit beidem einhergeht. Wir verlassen das Gelände mit einem Gefühl, das irgendwo zwischen Nachdenklichkeit und Anerkennung liegt. Es bleibt vieles unausgesprochen und das bewusst. Doch das, was wir sehen durften, reicht aus, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.


Ein Blick hinter die Kulissen der Tierversuchsforschung

Bern, ein ruhiger Nachmittag an der Universität. Die sterile Luft und das leise Summen der Belüftung schaffen eine sachliche Atmosphäre. Wir gehen durch breite Flure, vorbei an Glasfenstern, hinter denen Studierende aufmerksam den Vorlesungen folgen. In den Hörsälen herrscht konzentrierte Stille, während Professorinnen und Professoren komplexe Themen vermitteln. Hier treffen wir Isabelle Desbaillets, die als Animal Welfare Officer (AWO) an der Universität Bern tätig ist. Sie nimmt sich Zeit, um uns einen tiefen Einblick in die Welt der Tierversuche zu geben – eine Welt, die von strengen ethischen und gesetzlichen Vorgaben geprägt ist. Ihre Aufgabe: sicherzustellen, dass Forschende sich an die gesetzlichen Richtlinien halten und dass das Wohl der Tiere trotz der Experimente bestmöglich gewahrt bleibt. Doch wie sieht diese Arbeit konkret aus? Welche Herausforderungen bringt sie mit sich? Und wie weit kann der Spagat zwischen Wissenschaft und Ethik gehen?

Von Vithuran Elango und Julian Ritter: Gibt es Tier versuche, die Sie persönlich oder aus ethischen Grün den ablehnen würden?

Isabelle Desbaillets: (lehnt sich zurück) Als AWO sind wir nicht direkt in Tierversuche involviert, außer in der Ausbildung und Weiterbildung unserer Forschenden. Diese Schulungen sind gesetzlich als Tierversuche definiert, da wir Tiere einsetzen, wenn keine Alternativen existieren. Unsere Aufgabe ist es nicht, die Wissenschaft hinter den Experimenten zu bewerten – das übernehmen Förderinstitutionen wie der Schweizerische Nationalfonds.

«Unsere Aufgabe ist es nicht, die Wissenschaft zu bewerten, sondern die Regeln einzuhalten»

Welche Verantwortung tragen Sie konkret im Um gang mit Tierversuchen?

Wir stellen sicher, dass alle gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden und die Belastung für die Tiere so gering wie möglich bleibt. Persönlich würde ich gewisse Experimente kritisch sehen, aber meine Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen zu kontrollieren, nicht die Forschung selbst zu bewerten.

Isabelle Desbaillets

Laut offiziellen Statistiken wurden 2022 in der Schweiz 585.991 Tiere für Experimente genutzt, 2023 waren es sogar 595.305. Wird sich diese Zahl in Zukunft ändern?

Isabelle Desbaillets: Die Zahlen sind eigentlich ziemlich stabil. Aber 2026 wird es eine deutliche Erhöhung geben. Nicht weil plötzlich mehr Tiere genutzt werden, sondern weil das BLV die Zählweise geändert hat. Bis her wurden bestimmte Tiere gar nicht erfasst und die tauchen jetzt in der Statistik auf. Besonders auffällig ist, dass diese Zunahme in den Tier zuchtanlagen stattfindet und nicht bei den Versuchen. Das kann schnell den Eindruck erwecken, dass mehr Tiere verwendet werden, obwohl die tatsächliche Zahl eigentlich gleich bleibt.

Die Schweiz hat eines der strengsten Tierversuchsgesetze der Welt. Gibt es Fälle, in denen Forschungsanträge trotz hoher wissenschaftlicher Relevanz abgelehnt wurden?

Isabelle Desbaillets: Ja, das kommt vor. Jeder Versuch Wetter: Bern 15° Kirchenfeld Zeitung 09.05.2025 muss eine detaillierte Kosten-Nutzen-Analyse durch laufen. Wenn der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn nicht groß genug ist, um das Leid der Tiere zu rechtfertigen, wird ein An trag abgelehnt. Es gibt Fälle, in denen Forschende über zeugt waren, dass ihr Experi ment notwendig sei, aber die Behörden anders entschieden haben. Das ist auch gut so – solche Entscheidungen sind notwendig, um das ethische Gleichgewicht zu wahren.

«Besonders auffällig ist, dass diese Zunahme in den Tierzuchtanlagen statt findet und nicht bei den Versuchen.»

Beeinflusst Ihre Arbeit Ihren Umgang mit Tieren im Alltag?

Isabelle Desbaillets: Nein, ich habe eine Katze und hatte früher einmal Ratten. Meine Arbeit ändert daran nichts. Allerdings hat sie meine Ernährung beeinflusst. Ich bin Flexitarierin und esse kein Fleisch außer Huhn. Das hat mit der Massentierhaltung und den Tierschutzproblemen zu tun, die ich als unnötig empfinde. Ich erlebe täglich, wie Tiere gehalten und behandelt werden. Nicht nur in unseren Anlagen, sondern insgesamt in der Tierhaltung. Dies hat meine Sicht auf den Konsum tierischer Produkte stark verändert.

«Manche Forschende sind über zeugt – die Behörden nicht.»

Glauben Sie, dass Alterna tiven wie Organoide oder Computermodelle Tierver suche bald überflüssig ma chen werden?

Isabelle Desbaillets: (über legt kurz) Was heißt für Sie „bald“ – ein Jahr? Zehn Experiment verbieten, dann aus gutem Grund. Als AWO haben wir zudem das Recht, Versuche zu stoppen, wenn Bedenken aufkommen. Dann passen wir die Protokolle an, um Methoden zu verfeinern und Stress und Schmerzen zu minimieren. Erst nach Genehmigung der Änderungen durch die kantonalen Veterinärbehörden kann der Ver such fortgesetzt Jahre? Komplexe Krankheitsmodelle, etwa für metastasierenden Krebs, erfordern weiterhin einen ganzen Organismus. Doch es gibt Fortschritte: „Human-on-a Chip“-Technologien könnten bald viele Fragen ohne Tier versuche beantworten. Allerdings gibt es noch viele Hürden zu überwinden, insbesondere wenn es um die Übertragung von Ergebnissen auf ein gesamtes leben des System geht. Solche Technologien sind vielversprechend, aber sie ersetzen noch nicht alle Tierversuche.

90 % der Medikamente, die sich in Tierversuchen als vielversprechend erweisen, scheitern am Menschen. Gibt es Strategien, um die Vorhersagekraft von Tier versuchen zu verbessern?

Isabelle Desbaillets: Das ist ein großes Thema. Tierversuche sind ein Modell, aber kein perfektes. Deshalb wird intensiv daran gearbeitet, sie zu verfeinern und Alternativen zu entwickeln. Es gibt viele Herausforderungen, die noch gelöst werden müssen – genau daran forschen Wissenschaftler weltweit.

Haben Sie je mals mit ei ner Entschei dung zu einem Tierversuch gerungen?

Isabelle Desbaillets: Ja, aber ich vertraue auf die kantonalen Veterinärbehörden und Kommission für Tierversuche. Wenn sie ein Experiment verbieten, dann aus gutem Grund. Als AWO haben wir zudem das Recht, Versuche zu stoppen, wenn Bedenken aufkommen. Dann passen wir die Protokolle an, um Methoden zu verfeinern und Stress und Schmerzen zu minimieren. Erst nach Genehmigung der Änderungen durch die kantonalen Veterinärbehörden kann der Versuch fortgesetzt werden. Manchmal gibt es Grenz fälle, bei denen eine Entscheidung besonders schwer fällt, aber genau für solche Fälle gibt es die strengen Genehmigungsverfahren.

«Tierversuche sind nicht perfekt, aber oft unverzichtbar»

Interviewort, Universität Bern

Gibt es Tierversuche, die Sie für ethisch inakzeptabel halten?

Isabelle Desbaillets: In der Schweiz ist das nicht der Fall, aber anderswo gibt es Praktiken wie z.B die Parabi ose: die chirurgische Verbin dung zweier Organismen mit gemeinsamem Blutkreislauf. Solche Versuche wurden in der Vergangenheit durchgeführt, um Er kenntnisse über das Altern oder Organfunktionen zu ge winnen, aber ich halte das für moralisch nicht vertretbar. In solchen Fällen würde ich stattdessen auf die immunologische und endokrinologische Forschung setzen.

Tierversuche werden in der Schweiz in vier Schwere grade eingeteilt. Stufe-3-Experimente (schwere Sind Belastung) manchmal unvermeidbar?

Isabelle Desbaillets: Ja, zum Beispiel in der Krebsforschung, bei neurodegenerativen Erkrankungen oder Infektionskrankheiten. Humane Endpunkte können helfen, das Leiden zu begrenzen, aber ganz vermeiden Antragsstellung. Retrospektiver SD ist die tatsächliche Belastung nach dem Versuch – er kann niedriger sein. Die BLV-Statistiken zeigen nur retrospektive Grade. lassen sich solche Versuche derzeit nicht. In solchen Fällen wird alles getan, um die Tiere so gut wie möglich zu betreuen und unnötiges Lei den zu verhindern. Die Entscheidung für ein solches Experiment wird nicht leichtfertig getroffen.

Wie unterscheiden sich ‚prospektive‘ und ‚retrospektive‘ Schweregrade – und warum wird letzterer nicht publiziert?

Isabelle Desbaillets: Prospektiver SD ist die vorhergesagte Belastung bei der Antragsstellung. Retrospektiver SD ist die tatsächliche Belastung nach dem Versuch – er kann niedriger sein. Die BLV-Statistiken zeigen nur retrospektive Grade.

Labormaus sitzt in Futter

Das Gespräch mit Isabelle Desbaillets hat uns gezeigt, wie komplex und vielschichtig das Thema Tier versuche ist. Oft wird in der öffentlichen Debatte sehr emotional darüber diskutiert, doch hinter den Kulissen gibt es ein strenges System aus Gesetzen, Kontrollen und ethischen Abwägungen. Tierversuche sind nicht einfach eine Frage von „erforderlich“ oder „unverantwortlich“ – sie sind in vielen Bereichen der Forschung noch unverzichtbar, auch wenn intensiv an Alternativen gearbeitet wird.

Besonders spannend war die Diskussion über neue Technologien wie Organoide oder „Human-on-a Chip“-Modelle. Es klingt vielversprechend, dass die Methoden in Zukunft viele Tierversuche ersetzen könnten. Doch bis es so weit ist, wird es noch dauern. Gleichzeitig hat uns überrascht, dass einige Forschende überzeugt sind, dass ihre Experimente notwendig seien, während die Behörden dies anders sehen und Anträge ablehnen. Das zeigt, dass Tierversuche selbst in der Wissenschaft kein einfaches Thema sind.

Am meisten zum Nachdenken gebracht hat uns der persönliche Umgang von Desbaillets mit dem Thema. Ihre Entscheidungen sind nicht immer einfach und ihr Blick auf den Tierschutz hat sogar ihre Ernährung beeinflusst. Letztlich bleibt die Frage, wie viel Tierleid wir für den wissenschaftlichen Fort schritt bereit sind zu akzeptieren – und wo wir als Gesellschaft die Grenze ziehen.


„Ethisch nicht vertretbar und wissenschaftlich fragwürdig!“

Sind sie unverzichtbar für den medizinischen Fortschritt oder nur ein veraltetes, grausames System? Barbara Schmid, Mitglied des Teams der Tierverbots-Initiative, spricht im Interview als entschiedene Gegnerin von Tierversuchen über ethische Bedenken, wissenschaftliche Kritik und modern Alternativen.

Barbara Schmid

Von Vithuran Elango und Julian Ritter: Warum sind Sie gegen Tierversuche? Gibt es Ihrer Meinung nach keine Fälle, in denen Tier versuche gerechtfertigt sein könnten?

Barbara Schmid: Meiner Meinung nach sind Tierversuche ethisch nicht vertretbar und wissenschaftlich eine unzureichende Methode. Tiere empfinden Freude, Leid und Angst, sie können Zuneigung zeigen. Es ist ethisch nicht vertretbar, fühlende Wesen zu quälen, ihnen Sonden zu implantieren, Nahrung zu entziehen oder ihnen Krankheiten zuzufügen.

Wäre für Sie eine Situation vorstellbar, in der ein Tierversuch moralisch vertretbar wäre?

Früher mag das anders gewesen sein, aber heute gibt es moderne Methoden, die Tier versuche ersetzen. Daher sehe ich keine Situation, in der sie noch gerechtfertigt wären.

Selbst bei der Erforschung oder Behandlung tödlicher Krankheiten?

Ja, denn Tierversuche lassen sich schlecht auf den Menschen übertragen. Tiere haben einen anderen Stoffwechsel. Beispielsweise vertragen Hunde und Katzen Aspirin nur in kleinsten Dosen, während es für Menschen ein wichtiges Medikament ist. Penicillin ist für Meerschweinchen tödlich, Voltaren verursacht bei Hunden Magendurchbrüche. Diese Unterschiede zeigen, dass Tierversuche keine zu verlässigen Ergebnisse für den Menschen liefern.

Wie kann man Medikamente entwickeln, wenn Tierversuche Ihrer Meinung nach keine sinnvolle Methode sind?

Viele sagen, man könne keine Medikamente entwickeln, ohne Tierversuche zu nutzen, da man an Menschen nicht alles testen kann. Es gibt Universitäten, die ohne Tierversuche arbeiten. Heute gibt es viele neue Methoden, und in diesem Bereich wurden enorme Fortschritte er zielt. Man kann aus Zellkulturen oder Zellen ganze Organe züchten – etwa schlagende Herzen, filtrierende Nieren oder atmende Lungen – und diese dann für Substanztests verwenden. Diese Mini-Organe, die keine externen Reize benötigen, liefern zuverlässige Ergebnisse. Es gibt auch sogenannte "Organs-on-a-Chip", die ganze Organsysteme simulieren. Diese Systeme liefern eben falls verlässliche Ergebnisse, weil sie nicht den Emotionen von Tieren unterworfen sind und weil der Stoffwechsel der menschlichen Zellen exakt nachgebildet wird.

„Organ-on-a-Chip“ ist eine innovative Technologie, bei der künstliche Chips aus Kunststoff mit menschlichen Zellen oder daraus gezüchteten Miniorganen bestückt werden. Diese Technologie ermöglicht es, die Reaktionen des Körpers auf Medikamente oder Krankheiten präzise zu untersuchen."

Bevor klinische Studien am Menschen beginnen, sind Tierversuche vorgeschrieben. Was denken Sie darüber?

Ja, das ist das Schweizer Ge setz, das Tierversuche als Goldstandard vorschreibt. Ein Medikament darf ohne Tierversuche nicht in die klinische Studie überführt wer den. Dieses Gesetz besteht jedoch schon lange, weil eine starke Lobby dahintersteckt, die Tierversuche aufrecht erhalten möchte. Unsere Initiative setzt sich dafür ein, dieses Gesetz zu ändern. Da mit können moderne Methoden zur Prüfung von Substanzen eingesetzt werden. Außerdem sollten klinische Studien nicht an jungen, gesunden Männern durchgeführt werden, sondern direkt an Patienten – zum Beispiel durch Microdosing, jedoch erst nach sorgfältiger Prüfung mit tierversuchsfreien Methoden. Wenn man ein Medikament gegen Alzheimer entwickelt, ist es unsinnig, es an gesunden jungen Menschen zu testen. Besser wäre es, mit einer kleinen Dosis an älteren Alzheimer Patienten zu beginnen und die Dosis schrittweise zu erhöhen, um die Wirkung zu testen. Das wäre deutlich sinnvoller.

«Das Schweizer Gesetz sieht Tierversuche als Goldstandard vor. Das möchten wir ändern.»

Wie gehen Tierversuchsgegner mit der Tatsache um, dass viele der heute verwendeten Medikamente ursprünglich auf Tierversuchen basieren?

95 % aller Substanzen, die erfolgreich an Tieren getestet wurden, scheitern in klinischen Studien am Menschen. Jährlich sterben Menschen an Substanzen, die in Tier versuchen als sicher galten. Oft wird dies jedoch nicht veröffentlicht.

Sie verwenden sicher Medikamente wie Paracetamol oder Aspirin, die jedoch alle an Tieren getestet wurden. Wie stehen Sie dazu als Konsument?

Ja, das stimmt. Fast alle auf dem Markt befindlichen Medikamente wurden irgend wann an Tieren getestet. Aber das bedeutet nicht, dass wir dieses System fortsetzen müssen. Heutzutage gibt es moderne Methoden wie menschliche Zellkulturen, Mini-Organe und Organs-on-a-Chip, die verlässliche Ergebnisse liefern, ohne dass Tiere leiden müssen.

Sollte die Forschung also mehr Geld in alternative Methoden investieren? Wie lange dauert es Ihrer Einschätzung nach, bis Tier versuche verboten oder er setzt werden?

Ja, auf jeden Fall. Die Initiative sieht vor, dass besonders grausame Tierversuche der Schweregrad Stufe 3, bei denen Tiere extrem gequält werden, so fort abgeschafft werden. Für alle anderen Tierversuche ist eine Übergangsfrist von etwa sieben Jahren vorgesehen. Natürlich müssen finanzielle Mittel gezielt in alternative Forschungsmethoden investiert werden, damit sie flächendeckend etabliert werden können. Leider ist das derzeit noch nicht der Fall.

«Seit über 40 Jahren wird geforscht – doch Tierversuche brachten keinen Durchbruch.»

Viele behaupten, Tierversuche seien die einzige Möglichkeit, schwere Krankheiten zu bekämpfen. Ohne sie könne man keine Medikamente auf den Markt bringen. Doch würde dies den medizinischen Fortschritt nicht behindern?

Das ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten 40 Jahre lang für denselben Arbeitgeber und Ihre Ergebnisse verbessern sich nur minimal. Wahrscheinlich wären Sie längst gekündigt worden. In der Forschung arbeiten wir seit über 40 Jahren an Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson und Krebs, und trotz dem wurde keine dieser Krankheiten vollständig besiegt. Natürlich gibt es Fort schritte, wie eine leicht verbesserte 5-Jahres-Überlebensrate bei Krebs, aber von einem Durchbruch kann keine Rede sein. Besonders bei Alzheimer und Parkinson gibt es kaum nennenswerte Erfolge. Medikamente, die bei Mäusen helfen, haben beim Menschen oft keine Wirkung. Der Stoffwechsel von Tieren ist nicht mit dem des Menschen vergleichbar. Aktuell gibt es jedoch Ansätze für ein Alzheimer-Medikament, das ohne Tierversuche entwickelt wurde. Die Ergebnisse sind vielversprechend.

Ein Professor aus Uni Bern meinte: „Wenn man nach 40 Jahren nur kleine Fort schritte erzielt hat, bedeutet das nicht, dass man aufhören sollte zu forschen.“ Was halten Sie da von?

Da hat er völlig recht! Niemand möchte die Forschung einstellen. Aber wir setzen uns dafür ein, ineffektive Methoden abzuschaffen. Es gibt zahlreiche andere, modernere Forschungsmethoden, die ohne Tierversuche auskommen und dennoch zu besseren Fortschritten führen können.

Ein Kollege meinte, die Debatte über Tierversuche sei oft emotional und nicht sachlich. Was sagen Sie dazu?

Das stimmt teilweise. Emotionale Argumente können uns schaden, da sie oft nicht auf Fakten basieren. Wir versuchen, sachlich zu bleiben und uns auf wissenschaftliche Fakten zu stützen. Allerdings gibt es viele Menschen, die das Thema sehr emotional betrachten, und das kann problematisch sein.

Wie könnte man die Öffentlichkeit besser über Tierversuche aufklären?

Die Lobby für Tierversuche ist enorm stark, und es fehlt uns an finanziellen Mitteln für größere Kampagnen. Wir setzen auf Social Media, aber ohne Unterstützung von Influencern bleibt die Reich weite begrenzt. Es ist eine Herausforderung, Menschen zum Nachdenken zu bringen, da viele sich nicht unmittelbar betroffen fühlen.

Sollten Schüler frühzeitig über Tierversuche informiert werden?

Ja, auf jeden Fall. Kinder haben ein natürliches Gerechtigkeitsempfinden und sollten die Wahrheit über Tierversuche erfahren. Natürlich muss das altersgerecht vermittelt werden, aber es ist wichtig, dass Kinder lernen, was hinter diesen Praktiken steckt.

Tierversuche für Kosmetika sind in der EU seit 2013 verboten, doch in an deren Ländern wie den USA oder China sind sie weiterhin erlaubt. Was denken Sie darüber?

Besonders bei Kosmetika sind Tierversuche absolut in akzeptabel. Wenn ein Mensch eine Creme nicht verträgt, ist das nicht lebensbedrohlich. Aber Tiere leiden extrem, und das oft ohne nachvollziehbare Ergebnisse. Ihre Hautstruktur unterscheidet sich durch Fell und andere Faktoren von der des Menschen. Heute setzen viele Unternehmen auf tierversuchsfreie Alternativen und das ohne negative Auswirkungen auf die Produktesicherheit.

«Reduce, Refine, Replace klingt gut – doch die Zahlen bleiben hoch.»

Stellen Sie sich vor, ein Medikament könnte Millionen Menschen retten, aber es müsste an Tieren getestet werden. Würden Sie das befürworten?

Das ist eine theoretische Fantasievorstellung. Barbara Schmid Lacht. Wie wir bereits besprochen haben, liefern Tierversuche oft keine zuverlässigen Ergebnisse. Ein Medikament, das im Tierversuch funktioniert, kann beim Menschen ganz anders wirken. Und umgekehrt könnten Wirkstoffe, die im Tierversuch scheitern, für Menschen hochwirksam sein.

Deshalb müsste ein potenzielles Wundermedikament ohnehin an menschlichen Modellen getestet werden, bevor es Millionen Menschen helfen könnte. Die moderne Forschung entwickelt immer bessere Alternativen – Tierversuche sind schlicht nicht mehr nötig.

An der Universität Bern waren 2022 nur 50 % der Versuchstiere keiner Belastung ausgesetzt. Ist das ethisch vertretbar?

Schweregrad 0 bedeutet oft nur, dass die Tiere keinen sichtbaren Stress zeigen, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht leiden. Beispiels weise galt das Amputieren von Zehen bei Mäusen lange als Schweregrad 0. Viele Tierversuche, die als unbedenklich gelten, sind in Wahrheit mit Leid verbunden.

Was halten Sie vom 3R Prinzip (Reduce, Refine, Replace)?

Das 3R-Prinzip soll sicher stellen, dass Tierversuche re duziert und verfeinert wer den. Reduce, Refine, Re place klingt gut – doch die Zahl der Tierversuche bleibt alarmierend hoch. Es sterben in der Schweiz jährlich ca. 600’000 Versuchstiere. Wie viele Versuche gemacht werden weiss ich nicht. Das zeigt, dass von einem echten „Reduce“ keine Rede sein kann.